#Ukrainetagebuch #3

#Odessa

Der dritte Teil des zeitversetzten #Ukrainetagebuch|s nach der Einleitung und Kyiv.

Eine der Überraschungen bei Reisen in Krisengebiete ist, wie schnell man sich an latente Gefahren gewöhnt. Als bei meiner ersten Nacht in Kyiv der Luftalarm erklang, lag ich noch nervös im Bett und fragte mich, ob es nicht doch weise wäre, den Schildern zum Bunker zu folgen. Nun in Odessa, nach fast einer Woche in der Ukraine, bin ich eher irritiert, wenn abends die Warnapp noch keinen Alarm angezeigt hat und der fiese durchdringende Ton noch nicht durchs Fenster dringt. Die nachlassende Nervosität hat freilich auch mit der relativ guten Flugabwehr in Kyiv und Odessa zu tun. Trotzdem: noch vor knapp einem Monat waren Raketen am Hafen eingeschlagen.

Odessa überrascht mich zuerst vom Stadtbild her. Im Umfeld des Bahnhofs fühlt man sich in Sowjetzeiten versetzt, Spielplätze, Straßenbahnen, Kleinbusse und der morbide Charm zigfach reparierter Straßen. Richtung Norden und Osten, also näher am Hafen und Wasser fühlt man sich wie an griechischen oder spanischen Küsten, vielleicht etwas gediegener und herrschaftlicher.

Mein erster Spaziergang führt mich zum Hafen, jedenfalls in seine Nähe. Der ist nämlich aus nachvollziehbaren Gründen weiträumig abgesperrt. Als ich ein Schild an der Absperrung mit dem Handy übersetzen will, stellt es sich als Fotografierverbot heraus und ein naher Soldat läuft schon auf mich zu. Als ich ihm zeige, dass ich nicht fotografiert habe, erkennt er aber schnell: „Ah, Google Translate“, sagt er und hebt den Daumen. Dass da wirklich kein Foto dabei war, muss ich ihm im Handy aber trotzdem zeigen.

Odessas Bewohner sprechen zu einem sehr hohen Anteil russisch. Und der Eindruck ist sehr deutlich, dass man bis 2014, also dem russischen Einmarsch in den Donbass und die Krim, ein durchaus entspanntes Verhältnis zu Russland hatte. Immerhin, sogar der Bürgermeister von Odessa war lange Janukowytsch Anhänger und wurde als solcher in sein Amt gewählt. Und 2014 gab es in Odessa auch schwere Unruhen nach Zusammenstößen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Demonstranten.

Gleichzeitig glaube ich auch in meinen Gesprächen zu spüren, dass vielleicht gerade wegen dieser ursprünglichen Nähe das Entsetzen über das Tun des östlichen Nachbarn nun besonders groß ist. Über die glasklare Verteidigungsgesinnung der Bürger*innen gibt es jetzt jedenfalls keine Zweifel mehr. Interessant: auch der ursprünglich russlandfreundliche Bürgermeister gehört jetzt zu den deutlichsten Verteidigern der freien Ukraine. Man könnte ihn einen Wendehals schimpfen, aber ich halte es für gut möglich, dass sein Wandel echt ist, dass er, wie ja auch viele bei uns, mit diesem Russland nicht gerechnet hat.

Einer der stellvertretenden Bürgermeister von Odessa, der sich rührend um mich kümmert, bestätigt das. Klar, es gäbe einzelne, die sich immer noch wünschen würden, Teil Russlands zu werden, aber das sei eine verschwindend kleine Minderheit.

Odessa hat sich an den Krieg gewöhnt und sich so gut es geht eingerichtet. Die Front im Osten ist seit der Eroberung Chersons durch die russischen Truppen weitgehend stabil, zu weit weg für Artillerie und mit den Präzisionstreffern auf Munitionslager und Nachschub sind auch die Raketenangriffe überschaubar wenige geworden. Sogar der innerukrainische Tourismus boomt und füllt die Cafes, jedenfalls bis 23 Uhr, wenn die streng kontrollierte Ausgangssperre beginnt und einen daran erinnert, dass eben doch nicht alles in Ordnung ist.

Das merkt man auch bei Fahrten von und nach Odessa. Die militärischen Checkpoints sind mehr und ernsthafter.  Bei einer Kontrolle wird gar die IMEI meines Handys notiert. Ein gruseliger Eingriff, aber mit ukrainischen Soldaten, die jederzeit das schlimmste befürchten, möchte man hier nicht über Datenschutzbedenken diskutieren.

Und man ist sich der wachsenden Risiken für Odessa durch die zunehmenden Erfolge der ukrainischen Armee auf der Krim sehr bewusst. Denn das letzte, was die russischen Truppen noch beherrschen, ist weitgehend ungezielter Raketenterror auf Städte.

Der letzte Teil meines Reiseberichts wird von der Fahrt nach Mykolajiw handeln, der Stadt, die seit nun sechs Monaten direkt an der Frontlinie liegt, in der der Bürgermeister wirkt, als wäre er auch der militärische Befehlshaber und das Leben seit Beginn des Krieges stehen geblieben zu sein scheint.

#Ukrainetagebuch #Ukraine #Odessa


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