#Ukrainetagebuch #4

Der vierte und letzte Teil des zeitversetzten #Ukrainetagebuch|s nach der Einleitung, Kyiv und Odessa.

Geschrieben schon aus dem beschaulichen München.

#Mykolajiw

Es war schon zu Beginn meiner Reise klar, dass ich nicht nur politische Gespräche führen wollte, sondern die Situation in umkämpften Regionen für Soldaten und Bevölkerung zumindest ansatzweise selber erfahren wollte. Ein Stück weit habe ich es auch als meine Pflicht empfunden, den grünen Tisch ganz zu verlassen und dorthin zu gehen, wo auch unsere deutsche Handlungspflicht ganz unmittelbar definiert wird.

Mykolajiw ist die Stadt zwischen Odessa und der von den Russen recht früh im Krieg eroberten Stadt Cherson. Sie liegt damit seit Anfang des russischen Angriffs unmittelbar an der, sich seit dem kaum bewegenden Frontlinie in Reichweite der Artillerie und wird seitdem auch fast ununterbrochen beschossen. Von ursprünglich fast einer halben Million Einwohner sind noch ca. 200.000 in der Stadt geblieben.

Und so war meine Vorstellung eigentlich ganz banal, mit einem Nahverkehrsbus zwei Stunden von Odessa nach Mykolajiw zu fahren. Sergey Tetukhin, der stellvertretende Bürgermeister von Odessa, dem ich davon erzählte, hatte andere Pläne mit mir. Er würde sein Security-Team zusammen trommeln und mit mir zusammen fahren. Und einen Termin beim Bürgermeister von Mykolajiw würde es dann auch noch geben. Ich habe natürlich nicht nein gesagt.

Und so stoppt am Vormittag des nächsten Tages ein kleiner Militärbus mit Sergey und zwei bis an die Zähne bewaffneten Soldaten vor meinem Hotel, um mich abzuholen. Ich habe Weste und Helm, die ich die ganze Reise zur Sicherheit im Gepäck hatte, dabei, aber um ehrlich zu sein: Sie bleiben den Tag auf der Rückbank des Busses. Man möchte Gesprächspartnern, die selber keinen Schutz mehr tragen (meist wegen der schlichten Gewöhnung an die Gefahr) einfach ungern als einziger wie eine Schildkröte begegnen. Und: es war einfach viel zu warm…

Fast zwei Stunden sind wir unterwegs und diese zwei Stunden lassen mich zweifeln, ob es noch gefährlicher werden kann als unmittelbar im Auto. Der Soldat am Steuer fährt konstant Vollgas und das auf Straßen mit unzähligen Schlaglöchern und zig Reparaturen. Als ich mich verstohlen nach Gurten umsehe, finde ich keine. Sogar Fahrer- und Beifahrergurte haben die beiden Soldaten jeweils hinter dem Sitz geschlossen, damit keine Anschnallwarnung piept.

Über eine einen Kilometer lange Brücke, die eine Woche später knapp von einer Granate verfehlt wird, fahren wir nach unzähligen Checkpoints in die fast ausgestorbene Stadt. Wir sehen Häuser mit Einschlägen und nur wenige Menschen. Die Stimmung wirkt gedrückt, wenn man Blicke erhascht, spürt man Angst.

Wir treffen den Bürgermeister in einem schicken Restaurant in der Stadt. Oleksandr Senkevych hatte sich schon 2015 mit einem pro-westlichen Kurs durchgesetzt und hat nun wie Selenskyj Anzug und Krawatte durch Kampfanzug ersetzt. Und mit der Pistole am Gurt wirkt er tatsächlich mehr wie ein militärischer Kommandeur.

Um so interessanter ist unser Gesprächsbeginn. Weil seine und meine Termine ursprünglich kollidierten und er freundlicherweise trotzdem bereit war mich zu treffen, stellt er sein Handy mit einer laufenden Zoomkonferenz neben uns auf den Tisch – er müsse da mit einem halben Ohr mithören, sagt er und zeigt grinsend auf eine Zoom-Kachel – den würde ich doch sicher kennen. Ich sehe Klitschko, den Kyiver Bürgermeister.

In der Online-Konferenz geht es, erzählt der Bürgermeister, um Steuererleichterungen für Soldaten durch die ukrainische Regierung, die jetzt aber die Kommunen besonders stark negativ treffen würden. Und so treffen sich hier mitten in Mykolajiw plötzlich Außen- und Sicherheitspolitik mit dringender Kommunalpolitik.

Der Bürgermeister muss seit sechs Monaten konstanten Notstand bekämpfen. Dabei ist es nicht nur die dauernde Gefahr durch Raketen und Artillerie, sondern auch die Versorgung der verbliebenen Bevölkerung, die tägliche Herausforderung ist. Besonders dramatisch: die Süßwasserversorgung ist schon lange unterbrochen und Tanklastwagen versorgen die Wohngebiete. Aus den Wasserhähnen in den Häusern fließt nur Salzwasser.

Immerhin: Eine Städtepartnerschaft mit Hannover ist in der Entstehung und es besteht Hoffnung, das Wasserproblem mit mehr Entsalzungsanlagen mittelfristig lösen zu können. Ich will das weiter beobachten. Vielleicht lässt sich hier konkrete Hilfe aus Deutschland mit anstoßen.

Der zweite Termin in Mykolajiw findet fast konspirativ an einer Straßenkreuzung statt. Eine Abgeordnete aus dem Poroschenko-Block hatte mir einen ehemaligen Diplomaten und Politiker ihrer Partei vermittelt, der seit Anfang des Krieges bei den ukrainischen Truppen in den Frontgebieten vor der Stadt dient.

Wir setzen uns zum Kaffee trinken in ein kleines Cafe an der Straße.

Frau und Kinder hat er nach dem russischen Angriff in Sicherheit geschickt. Er selber hat sich bei der Armee gemeldet. Seine Motivation ist natürlich politisch. Es geht darum nicht unter der Knute eines autoritären Staates zu leben.

Und wieder begegnet mir im Gespräch diese Logik, die man sich kaum auszusprechen traut, weil sie natürlich ein grausames Element in sich trägt: Der russische Angriff hat nicht nur die Ukraine als Staat enger zusammen geschweißt, er hat auch die Sehnsucht nach einer Zugehörigkeit zur EU verstärkt. Es ist, da sind wir uns auch hier mit den Frontlinien in Sichtweite einig, tatsächlich auch eine Chance. Und was ich in anderen Gesprächen auch immer wieder wahrgenommen habe, sagt er hier auch im Flecktarn: Die Ukrainer kennen die Hürden, die noch zu bewältigen sind, um Mitglied der EU zu werden, sei es im Bereich Korruption oder der Rechtsstaatlichkeit. Aber sie sind mehr denn je entschlossen, sie zu überwinden.

Aber wie nah hier Krieg und Tod sind, sparen wir nicht aus. Ob er Angst habe, zu sterben, frage ich ihn. Natürlich, sagt er, nur Idioten haben keine Angst vor dem Tod. Und er berichtet von intensivierten Infanterieaktivitäten auch der Einheiten, zu denen er gehört – genau eine Woche später wird sich das als das Vorgeplänkel zu einer größeren Offensive herausstellen. Und während die Frontlinien wochenlang eher statisch waren, sind im Rahmen der neuen Bewegungen im Süden auch in seinem Umfeld wieder ukrainische Soldaten gestorben.

Das gewohnte „Stay save!“ bekommt beim Abschied eine besonders ernsthafte Bedeutung. Wir werden via Whatsapp in Kontakt bleiben.

Am nächsten Tag mache ich mich wieder auf den Weg zurück nach München.

Es bleibt der intensive Eindruck von einem Land, dass sich mit allen Kräften gegen die russische Aggression wehrt und das sich mit der gleichen Kraft politisch auf die EU zubewegt.

Wir müssen alles dafür tun, damit dieser Abwehrkampf erfolgreich bleibt. Westliche Waffen und ukrainische Soldaten haben den russischen Vormarsch gestoppt. Seit sechs Wochen gibt es keine relevanten russischen Fortschritte mehr. Jetzt kommt es darauf an, das mehr an Waffen und anderen Waffen zu liefern, die es der Ukraine ermöglichen, die Russen aus dem Land zu werfen.

Nicht nur, weil wir politisch und moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte stehen müssen, sondern auch, weil am Erfolg der Ukraine gerade die komplette Sicherheitsstruktur ganz Europas hängt und weil die Ukraine ein Gewinn für die EU werden wird.

#Ukrainetagebuch #Ukraine #Mykolajiw


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: